KIM: Der Nutzen muss erlebbar werden
Interview mit Mark Langguth, selbstständiger Experte für Digital Healthcare
Mark Langguth ist als freiberuflicher Berater tätig für die Prozessdigitalisierung und Produktentwicklung mit Schwerpunkt auf Telematikinfrastruktur. Er unterstützt Krankenkassen – im gesetzlichen wie im privatwirtschaftlichen Umfeld – bei Digitalisierungsthemen und berät darüber hinaus die umsetzenden Industrieunternehmen.
Welchen technischen und organisatorischen Aufwand bringt die KIM-Einführung mit sich?
Die Einführung von KIM ist in der Arztpraxis technisch gesehen relativ trivial. Sie ist mit der Aufstellung eines Faxgeräts oder eben dem Einrichten einer Mailadresse vergleichbar. Wegen der Sicherheitsanforderungen müssen allerdings KIM-Postfach und SMC-B bzw. HBA-Karte miteinander verknüpft werden, das macht die Sache dann etwas aufwändiger. Auch die organisatorische Herausforderung der KIM-Einführung in der Arztpraxis ist eher gering, weil meist die gesamte externe Kommunikation zentral über den Empfangsbereich läuft. In Kliniken ist allerdings die hausinterne Organisation von KIM ein ambitioniertes Anliegen, dem sich Kliniken nicht früh genug stellen können. Sie benötigen ein Konzept, das alle Fragen dazu beantwortet wie: Wie viele Mailadressen sollen eingerichtet werden? Und welche genau? Wer soll darauf Zugang haben? Wie können die Abteilungen und Stationen der Klinik bzw. der Kliniken eingebunden werden? Diese Planung und Umsetzung beansprucht je nach Größe der Klinik Wochen bis Monate.
Welche Mehrwerte können mit KIM entstehen?
KIM ist genauso einfach in der Benutzung wie die normale E-Mail. Sie wird das Fax ersetzen. Mit der KIM-Mail können endlich weitgehend alle versorgungsbezogenen Informationsprozesse über die eigene Organisation hinaus vollständig digital erfolgen. Alle an einer Versorgung beteiligten Einrichtungen können untereinander digital kommunizieren, ob es Ärzte, Krankenhäuser, Pflege- oder Reha-Einrichtungen sind. Was für das Medizinwesen neu ist, klingt aus Sicht der freien Wirtschaft fast altertümlich, weil diese Art der Kommunikation hier seit 20 Jahren Realität ist. Was an KIM wie bei jeder E-Mail so attraktiv ist: Es gibt keine Vorgaben an die angehängten Datenformate. Außerdem ist KIM systemunabhängig. Man kann daher nahezu beliebige Kommunikations- und Informationsprozesse vergleichsweise schnell und einfach über die eigene Einrichtung hinaus etablieren.
Welche positiven Nutzungsszenarien sehen Sie und wie werden sie Ihrer Meinung nach auf die KIM-Anwender wirken?
Bei der TI und darauf aufbauend KIM denken viele nur an die Ärzteseite, aber TI und KIM sind ja auch für Apotheken und bald auch beispielsweise für Hebammen und Physiotherapeuten offen. Damit haben wir viele neue Nutzungsszenarien. Beispielsweise können Kinderärzte, Hebammen, Gynäkologen und Geburtskliniken direkt miteinander digital zur selben werdenden Mutter bzw. ihrem Neugeborenen kommunizieren. Oder ein Orthopäde sendet die Patientendaten direkt an den behandelnden Physiotherapeuten, der sich bei einer Rückfrage zu einer Behandlung nochmals kurz an den Arzt wenden kann. Auch die Labordaten laufen dann problemlos ins KIM-Postfach ein und können von dort automatisch der richtigen Patientenakte zugeordnet werden. In diese positiven Anwendungsszenarien sind nur leider zunächst die Patienten nicht eingebunden, obwohl es ja auch mit ihnen versorgungsbezogene Kommunikation gibt. Hier plant der Gesetzgeber ab 2023 zusätzlich zu KIM einen Sofortnachrichtendient einzuführen, der neben den Leistungserbringern und Kassen dann auch für Versicherte nutzbar sein soll. Die gematik wird dies als TIM umsetzen, das sichere TI-Messaging.
Die sichere Mailkommunikation über KIM klingt sehr attraktiv. Dennoch stehen viele den neuen Technologien skeptisch gegenüber. Warum?
Die TI-Einführung ab 2018 war zunächst nur mit Aufwand und Kosten verbunden, es entstand kein konkreter Nutzen für die Ärzte und Kliniken. Dazu kommen die Kosten für die TI-Einführung in den Praxen, die nicht vollständig von der Finanzierung durch KBV und GKV-SV abgedeckt sind. Auch die eAU als erste KIM-Pflichtanwendung ab dem 1. Oktober ist aus Sicht der Ärzte nicht sonderlich attraktiv. Was vorher nur der Ausdruck eines Belegs war, wird nun ein potentiell lästiger Prozess. Denn dann müssen die Ärzte dafür sorgen, dass die eAU die Kassen erreicht. Kann der digitale Versand auf Grund einer Störung oder auf Grund inkorrekter Daten nicht erfolgreich abgeschlossen werden, muss die Praxis die AU per Post zur Kasse senden. Ich kann verstehen, dass es vor diesem Hintergrund schwierig zu sehen ist, welche Vorteile durch TI und KIM entstehen werden. Die Effizienzsteigerung, die KIM ermöglicht, haben viele aus diesen Erfahrungen heraus noch nicht im Blick.
Sie betreiben das herstellerneutrale Forum TI-Community.de. Warum haben Sie es ins Leben gerufen und für wen?
Es brauchte meiner Meinung nach ein Forum, in dem sich alle Beteiligten und Nutzer der TI untereinander austauschen können. Die TI-Community richtet sich an alle TI-Nutzer, also keineswegs nur an Nerds. Dort können sich Ärzte, Hebammen, IT-Leiter, MFAs, Apotheker miteinander austauschen und konkrete Fragen stellen: Wie funktioniert das eRezept? Welche Einschränkungen gibt es bei den Notfalldaten? Muss ich als Apotheker den Dispensierungsdatensatz mit dem eHBA signieren? Welche Anhänge kann ich per KIM verschicken? … Oft kann man sich gegenseitig am schnellsten und unkompliziertesten helfen.
Wie sehr hat die Corona-Pandemie die Einführung von TI und KIM beeinflusst?
In der TI selbst sind wir dadurch nicht schneller vorangekommen. Aber durch die Pandemie wurden die Widerstände gegenüber den Digitalisierungsthemen allgemein etwas abgebaut. Ein Beispiel ist die Videosprechstunde: Vorher standen weite Teile der Ärzteschaft dem Thema eher skeptisch und ablehnend gegenüber. Jetzt wurde der positive Nutzen erlebt und festgestellt: Videosprechstunden sind hilfreich, denn sie unterstützen die Versorgung. Diesen Mindshift, der hier in kurzer Zeit stattgefunden hat, erwarte ich auch bei TI und KIM, sobald der Nutzen erlebbar wird.