Von Thomas Zimmermann, Geschäftsführer BioArtProducts GmbH
Hersteller von Medical Device Software (MDSW) sind unter anderem dazu verpflichtet, klinische Daten und Ergebnisse der klinischen Bewertung bzw. Leistungsbewertung nachzuweisen, die in quantitativer und qualitativer Hinsicht ausreichend belegen, ob die Software sicher ist und den angestrebten klinischen Nutzen bei bestimmungsgemäßer Verwendung erreicht. Die seit 26.05.2021 gültige Medical Device Regulation (MDR) fordert hierfür, dass die Hersteller im Vergleich zu den vorigen Anforderungen deutlich mehr eigene klinische Daten für ihre Produkte generieren und aufrechterhalten müssen, um im Rahmen der klinischen Bewertung klinische Evidenz mit den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen zeigen zu können. Dies müssen Hersteller im klinischen Entwicklungsplan entsprechend berücksichtigen. Es betrifft nicht nur das erstmalige Inverkehrbringen des Produkts, sondern auch die Re-Zertifizierungen von bereits zugelassenen Medizinprodukten. Nutzen und Sicherheit müssen also nochmals im realen Feld in einer „Nachbeobachtung“ getestet werden. Hersteller von MDSW sollten daher die eigenen klinischen Daten für die Produkte dahingehend kritisch überprüfen. Es kann sein, dass hier Lücken bestehen oder festgestellt wird, dass Produkte anders als bisher klassifiziert werden (z.B. Risikoklasse 2 statt bisher 1) oder nun zum ersten Mal klinisch bewertet werden müssen.
Neuer MDCG-Leitfaden: Bedeutung und Anwendungsbereich
Zu Ablauf und Inhalt von klinischer Bewertung und Leistungsbewertung bei MDSW enthält die von der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte (Medical Device Coordination Group, MDCG) erstellte und 2020 veröffentlichte „Guidance on Clinical Evaluation (MDR) / Performance Evaluation (IVDR) of Medical Device Software“ wichtige Empfehlungen und Hinweise. Sie sind zwar nicht rechtsverbindlich, aber für die Praxis von maßgeblicher Bedeutung. Gegenstand der Leitlinie sind nur solche MDSWs, die eine unabhängige Zweckbestimmung aufweisen und die einen unabhängigen klinischen Nutzen realisieren sollen. Dazu gehören auch z.B. Medical Apps. Der Leitfaden beschreibt Verfahren, wie valide klinische Daten – ein zentraler Teil des klinischen Nachweises – generiert werden. Hierbei sollen drei Komponenten berücksichtigt werden:
- valider klinischer Zusammenhang/wissenschaftliche Validität
- technische oder analytische Leistungsfähigkeit
- klinische Leistungsfähigkeit
1) Valider klinischer Zusammenhang/wissenschaftliche Validität
Bei der ersten Anforderung geht es um den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen einem MDSW-Output und einem klinischen oder physiologischen Zustand. Der Nachweis ist geführt, wenn die MDSW der klinischen Situation, dem Zustand, der Indikation oder dem Parameter entspricht, die in ihrer Zweckbestimmung definiert sind. Dies setzt voraus, dass die wissenschaftliche Validität klinisch anerkannt oder begründet ist. Als Quellen hierfür nennt der Leitfaden z.B.
- technische Normen
- Leitlinien wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften
- Daten aus klinischen Studien (MD MDSWs) bzw. Leistungsstudien (IVD MDSWs)
- veröffentlichte klinische Daten
Sind solche Daten nicht vorhanden, kann bzw. muss der Hersteller eine Sekundärdatenanalyse oder eine klinische Studie bzw. eine Leistungsstudie durchführen.
2) Technische und analytische Leistungsfähigkeit
Mit dem Parameter der technischen oder analytischen Leistungsfähigkeit soll die technische Erfüllung der grundlegenden und beabsichtigten Leistungskriterien festgestellt werden. Er beantwortet die Frage nach der Fähigkeit einer MDSW, den beabsichtigten technischen bzw. analytischen Output präzise und verlässlich aus den Input-Daten zu generieren. Im Einzelnen sollen hierfür u.a. folgende Eigenschaftennachgewiesen werden:
- Verfügbarkeit
- Vertraulichkeit
- Integrität
- Zuverlässigkeit
- Genauigkeit
- analytische Sensitivität
- Nachweisgrenze
- Quantifizierungsgrenze
- analytische Spezifizität
- Linearität
- Grenzwert(e)
- Messintervall
- Verallgemeinerbarkeit
- erwartete Datenrate oder -qualität
- Abwesenheit inakzeptabler Cybersicherheitslücken
- Human Factors Engineering
3) Klinische Leistungsfähigkeit
Der Nachweis der klinischen Leistungsfähigkeit zielt auf den Realeinsatz der Software. Im Kern geht es hierbei um die Fähigkeit einer MDSW, klinisch relevante Ergebnisse entsprechend dem beabsichtigten Verwendungszweck zu liefern. Die klinische Relevanz des Outputs einer MDSW äußert sich in einem positiven Einfluss auf die Gesundheit eines Individuums, ausgedrückt in Form messbarer, patientenrelevanter klinischer Ergebnisse, einschließlich der Ergebnisse im Zusammenhang mit der Diagnose, der Risikovorhersage, der Vorhersage von Behandlungsreaktionen oder mit ihrer Funktionalität, wie z.B. Screening, Überwachung, Diagnose oder Unterstützung bei der Diagnose von Patienten. Ergänzend oder alternativ kann sich die Leistungsfähigkeit der MDSW auch positiv auf das Patientenmanagement oder die öffentliche Gesundheit auswirken. Der Parameter der klinischen Leistungsfähigkeit spiegelt also auch den beabsichtigten klinischen Nutzen der MDSW wider.
Im Einzelnen verfolgt der Leitfaden einen an den Kriterien der Angemessenheit und Anwendbarkeit orientierten Ansatz. Es hängt vom jeweils intendierten klinischen Nutzen ab, welche Nachweise vom Hersteller zu erbringen sind.
Fazit
Der MDCG-Leitfaden formuliert auf der Basis teils unterschiedlicher rechtlicher Vorgaben einheitliche Prinzipien und Rahmenbedingungen für MD MDSW und IVD MDSW. Das ist weitgehend gelungen. Zudem vermittelt er wichtiges Orientierungswissen. Namentlich wird verdeutlicht, wie sehr es darauf ankommt, dass bei jedem Schritt der klinischen Bewertung bzw. Leistungsbewertung quantitativ und qualitativ ausreichende klinische Daten zur Verfügung stehen. Äußerst hilfreich für die Praxis ist schließlich auch Anhang II des Leitfadens, wo sechs Referenzbeispiele dargestellt werden.