Usability Engineering für Medizinprodukte nach IEC 62366-1

Von Sophie Neef 

Alles dreht sich um die Norm
Warum ist das Thema Usability Engineering für den Medizinprodukte-Markt in den letzten Jahren so wichtig geworden? Die Zulassung eines Medizinprodukts hängt von der europaweit geltenden Norm IEC 62366-1 ab. Diese wurde 2015 neu aufgelegt und mit deutlich höheren Kriterien für das Usability Engineering versehen.

Ein medienpräsentes Thema war damals der Skandal um fehlerhafte Brustimplantate, die mit minderwertigem Industriesilikon befüllt waren. Die Frauen mussten sich die fehlerhaften Implantate wieder entfernen lassen. Viele haben sich damals gefragt: Was passiert da eigentlich bei der Zulassung solcher Produkte? Wer prüft sie überhaupt in der Anwendung? Die Verschärfung der IEC 62366-1 Norm steht sicherlich auch im Zusammenhang mit der gestiegenen Wahrnehmung dafür, wie wichtig umfassende, dokumentierte Tests von Medizinprodukten sind. Hersteller müssen seitdem nicht nur technische Requirements erfüllen, sondern darüber hinaus nachweisen, dass die Produkte in der Anwendung durch die Nutzer sicher zu bedienen sind. Hierbei kann es sich um Hardware- oder Software-Produkte handeln. Es muss nachvollziehbar sein, dass die Produktentwicklung selbst nachgewiesenermaßen anhand der Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Nutzer*innen erfolgt ist.  

Was müssen Hersteller machen, damit ihr Produkt zugelassen werden kann?
Die Anforderungen der Norm IEC 62366-1 lassen sich anhand der drei Entwicklungsphasen eines Medizinprodukts beschreiben: Nutzer identifizieren, Produktentwicklung anhand iterativer Tests und summative Evaluation – die frühere Usability Validierung – des Produkts. Während jeder dieser Phasen müssen die vorgenommenen Tests, Ergebnisse und daraus abgeleitete Entscheidungen genau dokumentiert werden, damit das finale Produkt zugelassen wird.  

  1. Identifiziere die Nutzer: In dieser ersten Phase wird ermittelt, wer die Nutzer*innen des Produkts sind. Wer bedient das System oder Produkt? Gibt es eine oder mehrere Nutzergruppen, die das Produkt eventuell verschieden einsetzen? Welche Ziele haben die einzelnen Nutzergruppen, z.B. Ärzte oder Medizinische Fachangestellte? Um die Nutzer*innen zu erfassen, lohnt sich ein Blick in den Nutzungskontext wie z.B. den OP-Raum: In welcher Umgebung wird das Produkt angewendet? Ist es dort laut, leise, staubig, heiß, …? Wer arbeitet dort? Wie kommunizieren die Menschen miteinander? Wer hat welche Aufgaben? Werden die Nutzer*innen bei ihren Aufgaben unterbrochen? Wodurch? Gibt es eine Hierarchie? Wann und wie agieren die Personen mit dem Produkt? Was passiert mit dem Produkt durch die Benutzung? Hier sollten die Handlungsabläufe der Personen anhand von strukturierten Tabellen in sogenannten Nutzungsszenarien erfasst werden, um die tatsächliche Nutzung des Produktes systematisch, vollständig und unabhängig von den eigenen Erwartungen vorzunehmen. Diese detaillierte Erfassung dient dazu, möglichst alle „vorhersehbaren Nutzungsfehler“ zu identifizieren und konkrete Nutzungsanforderungen abzuleiten.
  1. Iteriere deine Produktentwicklung: In dieser Hauptphase geht es darum, zunächst schnell einen ersten Prototypen des Produktes, beispielsweise aus Papier, Karton oder bei Software als Wireframe, zu bauen. Schon die ersten Visualisierungen sollten mit Anwender*innen, idealerweise echten Endanwender*innen, getestet werden. Das Produkt wird durch die Ergebnisse der Nutzung immer weiterentwickelt, bis keine Nutzungsfehler mehr identifiziert werden können bzw. das Produkt und dessen Design gut funktionieren. Diese iterativen Tests nennt die Usability-Norm „formative Evaluation“, welche von der „summativen Evaluation“ ganz am Ende (s. Punkt 3) zu unterscheiden ist. Das Ziel dieser Phase ist es, das Produkt sicherer zu machen und es so zu gestalten, dass die in Phase 1 festgestellten Nutzungsanforderungen erfüllt werden können. Der entscheidende Gedanke dahinter sollte immer sein: Nutzungsfehler passieren. Sie heißen aus gutem Grund nicht Benutzerfehler, sondern Nutzungsfehler. Fehler bedeuten also nicht, dass der/die Nutzer*in etwas falsch gemacht hat oder nicht schlau genug ist. Sie zeigen nur, dass das System bzw. Produkt verbessert werden muss. Diese Potentiale werden über die Redesigns gehoben. Wenn ein Fehler passiert, kann es zu einer Gefährdungssituation kommen. Wie mögliche Gefährdungen erkannt, beschrieben und eliminiert werden, geben die Usability-Norm IEC 62366-1 sowie die Risikonorm ISO 14971 genau vor. Während der gesamten Produktentwicklung müssen diese möglichen Fehler und die daraus entstehenden Gefährdungen für die Anwendenden hinsichtlich ihrer Schwere und Auftretenswahrscheinlichkeit ermittelt und dokumentiert werden. Beispielsweise kann bei fehlender Arretierung von Seitenstützen am Krankenbett eine Patientin aus dem Bett fallen und sich die Hüfte verletzen oder mehr. Gefährdungen sollen zunächst möglichst durch verbessertes Design eliminiert werden, sodass Nutzungsfehler erst gar nicht auftreten können. Falls eine Designoptimierung nicht möglich ist, sollten protektive Maßnahmen ergriffen werden wie Meldungen, Sperrhinweise, Warn-Pop-ups etc. Als letztes Mittel der Wahl dienen Erläuterungen in der Gebrauchsanweisung bzw. auf der Verpackung.  
  1. Validiere dein Endprodukt: Am Ende der Produktentwicklung steht die „summative Evaluation“. Zusammengefasst geht es hier darum zu zeigen, dass das Produkt im spezifizierten Nutzungskontext mit den spezifizierten Nutzer*innen seinen Zweck erfüllt und sicher benutzt werden kann. So wird zumeist in einem Usability-Test final bewiesen, dass das fertige Produkt, so wie es nach dem Ende der iterativen Produktentwicklung ist, sicher und effektiv verwendet bzw. eingesetzt werden kann. Bleibt nach der „summativen Evaluation“ noch ein Restrisiko, kann ein Produkt dennoch bei der Zulassungsstelle angemeldet werden. Doch auch die verbliebenen Restrisiken sollten genau dokumentiert und hinsichtlich ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit und Schwere bewertet werden. Übrigens: Wenn in der summativen Evaluation doch noch Fehler dokumentiert werden, lassen sie sich rückwirkend als formative Evaluation dokumentieren. Damit würde die Evaluation zur Phase 2 der Entwicklung zählen. Andersherum geht es allerdings nicht: Man kann keine formative Evaluation im Nachhinein als summative Evaluation dokumentieren, weil sie so gut gelaufen ist. Das lässt die Norm nicht zu. 

Häufige Fehler in der Produktentwicklung
Der Hauptfehler von Unternehmen, die noch unerfahren in der Entwicklung von Medizinprodukten sind, besteht darin, die Usability Tests viel zu spät zu planen und umzusetzen. Manchmal beginnt der von der Normstelle geforderte Prozess bestehend aus Testen, Iterieren und Dokumentieren erst kurz vor der geplanten summativen Evaluation. Hier muss meist unter hohem Druck viel nachgearbeitet und teilweise auch Tests nachgeholt werden, weil die Dokumentation nicht vorhanden ist. Oft wird auch versucht, Schritte zu umgehen oder zu verkürzen. Das kann gelingen, wenn man weiß, wie. Leider ist dies selten der Fall. Dabei werden mit suggestiven Fragen bestimmte Antworten von Nutzer*innen herbeigeführt, die dem Team am besten passen. Später fällt das Produkt im Test aber durch und man hat dasselbe Problem wieder. Es bedarf eines gewissen Muts, das unfertige Produkt in früher Phase den Usern in die Hand zu geben, ohne vorweg zu viel zu erklären, wofür es da sein soll. Dennoch ist das oft der einzig richtige Weg. Eine weitere Herausforderung für Unternehmen liegt darin abzuschätzen, wie viele Testiterationen sinnvoll und nötig sind. Viele wissen dabei nicht, dass sich auch Subsysteme testen lassen, zum Beispiel bei unterschiedlichen Releases einer Software. Es geht also immer um die Abschätzung wesentlicher Fragen: Welche Tests machen wann und in welchem Umfang Sinn? Wo lassen sich Kosten sparen und dennoch die Normen sicher einhalten? Wo sollten unbedingt echte Endanwender eingebunden werden, wo ist es nicht erforderlich? Was muss wie ausführlich dokumentiert werden?  

Unser Team bei AKQUINET arbeitet mit vielen Unternehmen zusammen und berät Sie vor und während der Produktentwicklung, damit Sie diese Balance zwischen Normerfüllung und Zeit- bzw. Kosteneffizienz optimal planen und aussteuern können, so dass am Ende eine sichere Zulassung des Medizinprodukts steht.

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